Ein Junge* sitzt auf einem Stuhjl. Er hat Kopfhörer auf und ein Mikrofon in der Hand.
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Théo und Serrig lernen sich selbst kennen

von Waldemar Kesler

Der 18-jährige Théo lebte bis vor einem Jahr in seiner Geburtsstadt Angers. Für seinen Freiwilligendienst ist er nach Serrig gezogen – ein Dorf mit 1.700 Einwohner*innen in der Nähe von Trier. Hier hat er sich unter die Menschen gemischt, um aufzuzeichnen, wie sie sich Kultur selber schaffen.

Als Théo seinen Deutsch-Französischen Freiwilligendienst (DFFD Kultur) in Serrig antrat, hatte er die Idee zu einem Podcast, für den er Serriger interviewt, bereits im Kopf. Er hört Podcasts selber gerne und hatte eigentlich ein ähnliches Projekt schon für das Radio seiner Schule geplant. Deutschland war für ihn eine Art Sehnsuchtsziel geworden, nachdem er es als Kind mit seiner bretonischen Musikgruppe besucht hatte. In ein Dorf zog es ihn, weil es ihm eher liegt als das Stadtleben: „Die Stadt ist zu unruhig für mich. Ich mag es, für ein paar Tage oder eine Woche große Städte zu besuchen. Zum Wohnen ist mir das Dorf lieber. In der Stadt könnte ich mich vielleicht unter den vielen Menschen verlieren. Im Dorf kann ich ein paar gute Menschen richtig kennenlernen.“

Dokumentation der Dorfgeschichte
Joachim Haupert vom Freundschaftskreis Serrig-Charbuy betreute Théo während des Freiwilligendienstes und dachte sich, dass auch den alteingesessenen Serrigern ein Podcast über sie gefallen könnte: „Ältere Menschen erzählen gerne von früher, schreiben ihre Erfahrungen aber in den seltensten Fällen auf. Deshalb gibt es kaum Dokumentationen über ihre persönliche Geschichte.“ Das Audioformat hat in seinen Augen auch einen praktischen Vorteil: „Ein Mikrofon lässt sich besser ignorieren als eine Kamera.“ Die Überwindung, sich im Gespräch zu öffnen, ist also für die älteren Serriger niederschwelliger. Théo hatte dann auch keine Schwierigkeiten, aus den Interviews umfangreiches Material für den Podcast zusammenzutragen, weil die Menschen gerne die Möglichkeit zum Erzählen nutzten. Größere Probleme bereitete es ihm, wenn er ein 80-minütiges Gespräch für das zwanzigminütige Podcastformat zurechtkürzen musste, weil ihm die Erinnerungen seiner Interviewpartner so wichtig waren.

Das Podcastprojekt war einer der Gründe, warum die Wahl auf Théo fiel, als er sich für den Freiwilligendienst angemeldet hatte. Damals war er noch keine achtzehn und hatte sein AbiBac – sein Baccalauréat, das französische Abitur, und parallel sein deutsches Abitur – noch vor sich. Mit seinen in der Schule erworbenen Deutschkenntnissen konnte er sich im Kennenlerngespräch sehr gut verständigen. Als er jedoch – in seiner Einsatzstelle in Serrig angekommen – die ersten Schritte unternahm, seine Idee umzusetzen, bemerkte Joachim Haupert, dass es Théo schwerfiel, auf ihm fremde Menschen zuzugehen. Außerdem fehlte es zur Realisierung des Podcasts an technischer Ausrüstung. Théo fand dann aber heraus, dass das von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderte Programm „land.schafft“ im Rahmen der Freiwilligendienste Kultur und Bildung dieses Problem beheben könnte. Mit „land.schafft“ werden kulturelle Freiwilligenprojekte im ländlichen Raum unterstützt. Der Freundschaftskreis Serrig-Charbuy half Théo bei der Bewerbung, die Fördermittel wurden bewilligt und das Projekt kam ins Rollen.

Do-It-Yourself-Kultur
Unterdessen half Théo in der Nachmittagsbetreuung der örtlichen Grundschule St. Martin und organisierte kulturelle Veranstaltungen mit: Kulturabende, Schreibwerkstätten und eine Ausstellung zum Thema Heimat. Eine Affinität zum kulturellen Schaffen hatte er bereits vor seinem Freiwilligendienst. Auf seiner früheren Schule, dem Lycée Joachim du Bellay, gibt es ein großes künstlerisches Angebot, bei dem sich die Schüler*innen ausprobieren können. Auf dem Land sieht er gleichzeitig ein großes Potenzial und einen großen Bedarf, sich kulturell zu betätigen: „Es ist wichtig, dass wir uns erinnern, dass die Kultur nicht nur in der Stadt geboren wird. In der Stadt ist das Angebot fast schon zu groß. In Dörfern gibt es kaum Orte, wo man etwas kreieren kann. Deshalb muss man Aktivitäten finden, um künstlerisch zu sein, und das muss unterstützt werden.“

Da im Dorf im Gegensatz zur Stadt die kulturellen Institutionen fehlen und das Kulturangebot selbst geschaffen werden muss, geht die Beteiligung am Kulturleben dort mit der sozialen Einbindung Hand in Hand. Théo war in Vereinen, als Freiwilliger und als Ehrenamtlicher aktiv. Er erlebte seine erste Fastnacht und nahm an den Vorbereitungen teil. Bei seinen ganzen Aktivitäten gingen die Dorfbewohner*innen auf ihn zu und gaben ihm die Gelegenheit, sie kennenzulernen. Diese Erfahrungen führten bei Théo zum Wunsch, in seinem Podcast „Serrig, hör zu!“ neben den Lebenserfahrungen der Alt-Serriger auch zu besprechen, wie die Serriger generell ihre Freizeit gestalten. Auf diese Weise wollte er ihnen die Vielfalt ihres eigenen Dorfes zeigen.

Als Théo anfangs noch fremd war, tat er sich auch schwer damit, Mitstreiter*innen für sein Projekt zu finden. Das änderte sich mit der zunehmenden Integration ins Dorfleben. Inzwischen gehören die 15-jährigen Ida und Melvin zum festen Team. Ida macht die Fotos für die Soundcloud-Website, auf der der Podcast zu hören ist, und beide führen Interviews. Théo lernte die jungen Serriger 2019 während eines deutsch-französischen Jugendzeltlagers kennen, das jährlich vom Freundschaftskreis Serrig-Charbuy organisiert wird. Da Ida und ihr bester Freund Melvin schon zusammen einen Podcast mit einem Handy aufgenommen hatten, riet Joachim Haupert, Ida um Hilfe zu bitten. Als Théo ihnen von seinen Ideen erzählte, hatten sie gleich Lust, beim Podcast mitzumachen. Ida und Melvin könnten dem Projekt auch Kontinuität verleihen: Die beiden würden es gerne mit Théos Nachfolger*innen fortführen.

Freiwilligenarbeit für die Gemeinschaft
Inzwischen sind die ersten Folgen online und viele der Dorfbewohner*innen, denen Joachim Haupert begegnet, wollen von ihm wissen, wann das Interview mit ihnen veröffentlicht wird. Für die Menschen in Serrig ist das Projekt etwas ganz Neues, die Neuigkeit hat schnell die Runde gemacht. Es bringt auch die Generationen zusammen, was Théo von Anfang an im Sinn hatte. Gerade die Älteren tun sich mit neuen Medien manchmal noch schwer. Aber in ihrer Neugier auf „Serrig, hör zu!“ lassen sie sich von den Jüngeren zeigen, wie sie sich den Podcast anhören können, oder sie hören sich ihn gleich gemeinsam an. Insofern hat Théo in Serrig nicht nur der Digitalität Vorschub geleistet, sondern sie auch zum Medium eines Generationenaustauschs gemacht, der sonst so nicht stattgefunden hätte.

Der Serriger Podcast entspringt auch der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen dem Freundschaftskreis Serrig-Charbuy und der neugegründeten Bürgergenossenschaft SeLe Serrig Lebenswert eG. Deren Ziel ist es, neben der Daseinsvorsorge durch Gemeinschaftsprojekte das Dorfleben zu bereichern. Zur Philosophie des Freundschaftskreises gehört seit zwanzig Jahren, der Jugend in der Partnerschafts- und Vereinsarbeit Verantwortung zu übertragen. Als die ehrenamtlichen Mitglieder der SeLe eG bei den anfallenden Aufgaben an die Grenze ihrer Kapazitäten stießen, stellte Joachim Haupert den Kontakt zum Deutsch-Französischen Freiwilligendienst her. Von einem jungen Freiwilligen aus einem anderen Kulturkreis erhofften er und die SeLe sich auch neue Impulse und frische Ideen für Serrig. Es sollte sich herausstellen, dass sie mit Théo an den Richtigen geraten waren.

Auf der anderen Seite hat auch Théo in seinem Freiwilligendienst das gefunden, was er in Deutschland gesucht hatte: „Serrig und seine Menschen haben mir viel über das Leben gezeigt und beigebracht. Hier wurde ich leichter als der akzeptiert, der ich bin. Hier bin ich ein bisschen mehr ich geworden.“

Der DFFD Kultur im Rahmen der Freiwilligendienste Kultur und Bildung ist ein Programm vom Kulturbüro Rheinland-Pfalz.