Screenshot einer Videokonferenz mit 14 Teilnehmenden. Einige halten ein Musikinstrument.
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Gruppenexperiment - Ein mehrtägiges Bildungsseminar wurde komplett ins Internet verlegt

von Claas Greite

Eine Plastiktüte raschelt. Flüssigkeit in einer Flasche blubbert. Ein Mädchen dreht an einem Zauberwürfel, ein Junge zerreißt ein Stück Papier. Kleine Fenster auf dem Bildschirm zeigen das, es werden immer mehr Fenster, immer mehr Geräusche, die sich nach und nach zu einem Rhythmus zusammensetzen. Das Klappen eines Mülltonnendeckels, Fingerschnippen, schließlich eine Gitarre, ein Klavier, weitere Instrumente. Eine Melodie entsteht, schließlich ein Gesamtkunstwerk mit mehrstimmigem Gesang. „Song aus Müll“ heißt das mosaikartige Werk, das alle Bausteine und Teilnehmer*innen auch im Video abbildet.

Lied und Video entstanden während eines Seminars im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres Kultur (FSJK) im April. Das Besondere daran: Die Schöpfer*innen dieses Liedes, wie auch die Teilnehmer*innen anderer Arbeitsgruppen, haben sich nicht persönlich getroffen, sondern nur über das Internet zusammengeschaltet. Mehr als 70 Menschen arbeiten fünf ganze Tage lang gemeinsam an kreativen Projekten, und zwar ausschließlich digital – das sind die Eckdaten eines Seminars, das aus der Not heraus konzipiert wurde und mit dem Neuland beschritten wurde.

„Wir wollten das Gesamtseminar, in dem alle Hamburger FSJKler*innen zusammenkommen, eigentlich in einem Seminarhaus in Plön abhalten. So wie jedes Jahr“, sagt Rebekka Leibbrand, die Pädagogische Leiterin des FSJ Kultur. Gemeinsam mit Atal Paiwastoon und Katrin Claussen organisiert sie das FSJK in Hamburg. Alle drei arbeiten in der Geschäftsstelle der Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendkultur (LAG) Hamburg, die Träger des FSJ Kultur in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung ist. Rebekka Leibbrand weiter: „Mitte März zeichnete sich ab, dass wir uns wegen der Coronavirus-Pandemie nicht treffen können. Das war zuerst frustrierend für die jungen Freiwilligen* und auch für uns, denn die Seminare sind sehr beliebt und wir organisieren sie auch sehr gerne.“ Atal Paiwastoon, er ist Pädagogischer Koordinator des FSJK, sagt: „Zuerst stand eine Absage im Raum, den Seminarleiter*innen hätten wir ein Ausfallhonorar bezahlt. Aber dann haben wir mit ihnen gesprochen, es kamen immer mehr gute Ideen für ein digitales Seminar zusammen. Dann haben wir uns entschieden, ein Experiment zu machen und etwas völlig Neues zu wagen.“

Ein digitales Gesamtseminar – zu 63

Mithilfe von Programmen wie Zoom und Trello wurde das erste „Digitale Gesamtseminar“ konzipiert, für 63 FSJKler*innen. Für alle fünf künstlerischen Workshops, die zur Wahl standen und normalerweise in Seminarräumen stattfinden, wurde eine Online-Version konzipiert. Dabei blieb es beim Oberthema „Nachhaltigkeit“, das sich dann auch in allen Workshops wiederfand.

FSJKler*in Lisette Kuss (18), ihre Arbeitsstelle ist bei dem gemeinnützigen TV-Sender Tide, nahm am Workshop „Digitale Musikproduktion“ teil, den der Musikproduzent Kim Korsah alias „Kimbo Beatz“ anbot. Sie erzählt: „Jeder hat bei sich zu Hause Geräusche in der Umgebung aufgenommen. Dann haben wir uns über digitale Meetings getroffen und beraten. Kim hat aus den vielen Bausteinen dann nach und nach den ‚Song aus Müll‘ zusammengeschnitten, wir konnten zusehen und das kommentieren.“ Lisette war selbst in der „Vocals-Gruppe“ und singt in dem Stück. Mai-Linh Le (19), als FSJKlerin ist sie in der Hochschule für Musik und Theater eingesetzt, entschied sich für den Workshop „Skulptur aus Papiermaché“ unter der Leitung von Barbara Wetzel. Mai-Linh erzählt: „Vor dem Seminar hatten wir mit der Post ein Paket erhalten, mit Material. Dann haben wir losgelegt.“ Statt im Atelier wurde am heimischen Schreib- oder Küchentisch gearbeitet, an „digitalen Treffpunkten“ kamen die Teilnehmer*innen zusammen, um den Stand ihrer Arbeiten zu besprechen – bei Mai-Linh entstand ein Kopf aus Klopapiermasse, mit Augen aus Draht, der später noch angemalt wurde.

Im Digitalen Gesamtseminar sei nun, gemeinsam mit den FSJKler*innen, ein neues Konzept erarbeitet worden. „Wir haben vier Gruppen à drei Leute gebildet. Die haben jeweils gemeinsam interaktiv ein eigenes Hörspiel geschrieben, darüber, wie die Coronavirus-Krise das Leben verändert.“

Zum Spielen der Stücke wurde dann jeweils die ganze Gruppe eingebunden. Vor einer Herausforderung stand auch Marie S. Zwinscher, die den Performance-Workshop leitete: „Eigentlich ist für den Workshop die leibliche Co-Präsenz wichtig. Ich habe dann den Schwerpunkt auf Selbsterfahrung gelegt und auf Übungen, die man allein durchführen kann.“ Die Teilnehmer*innen bekamen etwa eine Aufgabe nach Vorbild der Performance „Freeing the Memory“ von Marina Abramović. Dabei setzt sich die Teilnehmerin oder der Teilnehmer in einen Raum und spricht alle Worte, die ihr/ihm einfallen, in ein Diktiergerät, nur für sich selbst. „Das kann fünf Minuten oder zwei Stunden dauern. Wer fertig war, bekam eine neue Aufgabe“, so Marie S. Zwinscher. Entstanden seien „kleine, schöne Mini-Performances.“

Nicht zuletzt gab es die Aufgabe, alle Fäden über fünf Tage zusammenzuhalten – zumal es auch Programmpunkte gab, an denen alle 63 FSJKler*innen mit den Leiter*innen zusammenkamen. „Man muss es sich so vorstellen, dass der Bildschirm dann in viele, viele kleine Fenster eingeteilt ist. Das bedarf schon einer starken Moderation“, sagt Rebekka Leibbrand. Als Assistentinnen standen ihr und Atal Paiwastoon Leonie Schäffer und Alena Wedell zur Seite. „Jeweils eine Person von uns hat die Moderation übernommen, eine andere kümmerte sich um den schriftlichen Chat. Niemand, der Fragen hatte oder technische Probleme hatte, ist verloren gegangen.“

Die Online-Kommunikation funktionierte reibungslos

Grundsätzlich ziehen Rebekka Leibbrand und Atal Paiwastoon ein sehr positives Fazit. „Ich hatte am Anfang schon Sorge, dass das technisch nicht so klappt. Aber die Sorge hat sich dann schnell zerstreut. Alle Teilnehmer*innen waren sehr gut vorbereitet und haben extrem geduldig und gut mitgearbeitet.“ Atal Paiwastoon sagt: „Die wirklich sehr reibungslose Kommunikation hat mich überrascht. Wir dachten, wir werden mit Anrufen überhäuft. Aber das war überhaupt nicht so.“ Ähnlich äußert sich Sebastian Slaby: „Wir waren nicht sicher, ob das funktioniert, aber waren dann sehr zufrieden. Wir wollen jetzt auch einmal schauen, ob wir das neue, digitale Konzept weiterentwickeln können, zumal jetzt ja viele Festivals wegfallen.“

Marie S. Zwinscher sagt: „Zuerst war ich skeptisch, aber es hat dann besser funktioniert als gedacht. Technisch war alles reibungslos.“ Sie sagt aber auch: „Das Zusammensein in der Gruppe, wenn man sich Energie hin- und herschiebt, hat man am Computer einfach nicht.“ Dass sich nicht alles in den digitalen Raum verlagern lässt – das betonen auch Rebekka Leibbrand und Atal Paiwastoon. „Informelle Momente wie die Mahlzeiten oder das gemeinsame Bier fehlen natürlich bei einem Seminar am Computer“, sagt Rebekka Leibbrand. Atal Paiwastoon drückt es so aus:
„Das Gruppengefühl kann nicht digitalisiert werden. Das ist die größte Barriere.“ Dem stimmt auch Mai-Linh Le zu: „Real für ein paar Tage zusammen zu wohnen, ist natürlich noch einmal etwas anderes. Die Seminare leben auch davon, dass neue Freundschaften geknüpft werden.“ Wie Lisette Kuss, war auch sie aber positiv überrascht von dem Digitalen Gesamtseminar und auch von den entstandenen künstlerischen Arbeiten, die dann bei einer digitalen „Kulturshow“ vorgestellt wurden.

Allen, die wegen der Coronavirus-Krise oder aus anderen Gründen vor einer ähnlichen Situation stehen, raten Rebekka Leibbrand und Atal Paiwastoon zur Nachahmung. „Es ist durchaus eine interessante und lehrreiche Erfahrung, ein digitales Seminar abzuhalten“, sagt Atal Paiwastoon. Und ergänzt: „Man sollte aber unbedingt Offline-Zeiten und Pausen einplanen.“ Rebekka Leibbrand sagt: „Ich würde dazu ermuntern, das auszuprobieren und sich überraschen zu lassen.“

 

Weitere Informationen zum Freiwilligen Sozialen Jahr Kultur in Hamburg gibt es auf der Webseite der LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg e. V.

Den Song „Song aus Müll“ gibt es auf YouTube.

Der Beitrag ist für das „kju – Magazin der LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg“ entstanden und wird hier mit freundlicher Erlaubnis von LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg e. V. verwendet
Quelle: LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg (2020): Kultur digital. kju – Magazin der LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg. Ausgabe Sommer 2020. Hamburg. S. 20–22.